Juli 2025
Wie funktioniert die Mindestlohnfindung durch die Mindestlohnkommission?
Im Koalitionsvertrag haben CDU, CSU und SPD unter anderem festgelegt, dass die Mindestlohnkommission sich im Rahmen einer Gesamtabwägung künftig neben der Tarifentwicklung auch an 60 % des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren wird und auf diesem Weg ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 „erreichbar“ sein soll. Am 27. Juni 2025 hat die Mindestlohnkommission eine schrittweise Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 13,90 Euro zum 1. Januar 2026 und auf 14,60 Euro zum 1. Januar 2027 beschlossen. Die Entscheidung der Kommission bleibt damit unter der 15-Euro-Marke. Die Reaktion in Politik und Wirtschaft reichte von Erleichterung bis Enttäuschung.
1. Aufgabe und Zusammensetzung der Mindestlohnkommission
Die Mindestlohnkommission ist ein „ständiges“ Gremium und hat die Aufgabe, über die Anpassung der Höhe des Mindestlohns zu befinden. Die Mindestlohnkommission wird alle fünf Jahre durch die Bundesregierung neu berufen. Sie besteht aus insgesamt neun Mitgliedern: einem Vorsitzenden, sechs weiteren stimmberechtigten ständigen Mitgliedern und zwei beratenden Mitgliedern aus Kreisen der Wissenschaft ohne Stimmrecht (§ 4 Abs. 1 Mindestlohngesetz – MiLoG). Nach dem Verständnis des Mindestlohngesetzes handelt es sich bei der Mindestlohnkommission um eine Kommission der Tarifpartner (§ 1 Abs. 2 S. 2 MiLoG). Dementsprechend beruft die Bundesregierung auf Vorschlag der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer aus Kreisen der Vereinigungen von Arbeitgebern und Gewerkschaften jeweils drei der stimmberechtigten ständigen Mitglieder (§ 5 Abs. 1 MiLoG). Der „neutrale“ Vorsitzende wird von der Bundesregierung auf gemeinsamen Vorschlag der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer berufen (§ 6 Abs. 1 MiLoG). Schließlich
beruft die Bundesregierung auf Vorschlag der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer zusätzlich je ein beratendes Mitglied aus Kreisen der Wissenschaft (§ 7 Abs. 1 MiLoG).
2. Zweijähriger Anpassungsrhythmus
Nach der gesetzlichen Anhebung des Mindestlohns zum 1. Oktober 2022 auf 12 Euro hatte die Mindestlohnkommission erstmals über eine Anpassung der Höhe des Mindestlohns bis zum 30. Juni 2023 mit Wirkung zum 1. Januar 2024 zu beschließen. Danach hat die Mindestlohnkommission alle zwei Jahre über Anpassungen der Höhe des Mindestlohns zu beschließen (§ 9 Abs. 1 MiLoG). Der zweijährigen Anpassungsrhythmus orientiert sich an den üblichen tariflichen Entgeltanpassungszyklen.
3. Mindestlohnfindung aufgrund einer Gesamtabwägung
- Gemäß § 9 Abs. 2 S. 1 MiLoG hat die Mindestlohnkommission im Rahmen einer Gesamtabwägung zu prüfen, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist,
- zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmer beizutragen,
- faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten, d.h. insbesondere einem für kleinere und mittlere Unternehmen unverträglichen Verdrängungswettbewerb über Lohnkosten vorzubeugen, sowie
- Beschäftigung nicht zu gefährden, d.h. insbesondere dem Erhalt sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und damit der
finanziellen Stabilität der Sozialversicherung zu dienen.
Die genannten Kriterien sind im Rahmen einer Gesamtabwägung als gleichwertig zu berücksichtigen und setzen für den Anpassungs-
beschluss der Mindestlohnkommission einen äußeren Rahmen. Die Kriterien können in einem Zielkonflikt stehen, sodass es Aufgabe der Mindestlohnkommission ist, einen Ausgleich herbeizuführen. Die Mindestlohnkommission hat insoweit einen entsprechenden Ermessenspielraum.
4. Orientierung an der Tariflohnentwicklung
Die Mindestlohnkommission hat sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung zu orientieren (§ 9 Abs. 2 S. 2 MiLoG). An welcher konkreten Tariflohnentwicklung die Orientierung erfolgen soll, gibt das Gesetz nicht vor. In den Anpassungsbeschlüssen vom 28. Juni 2016, 26. Juni 2018, 30. Juni 2020 und 26. Juni 2023 hat sich die Mindestlohnkommission ausdrücklich auf den Tarifindex des Statistischen Bundesamtes gestützt und die tariflichen Stundenverdienste ohne Sonderzahlungen als Basis herangezogen. In dem aktuellen Anpassungsbeschluss vom 27. Juni 2025 wird der „amtliche“ Tarifindex nicht mehr ausdrücklich erwähnt.
5. Anpassungskriterien gemäß der EU-Mindestlohnrichtlinie
Die EU-Mindestlohnrichtlinie (Richtlinie (EU) 2022/2041) verpflichtet in Artikel 5 die Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen dazu, ein transparentes Rahmenwerk zur Festlegung und Aktualisierung der Mindestlohnhöhen zu schaffen. Nach Artikel 5 Abs. 4 haben die Mitgliedstaaten bei ihrer Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne Referenzwerte zugrundezulegen. Zu diesem Zweck können sie auf internationaler Ebene übliche Referenzwerte wie 60 % des Bruttomedianlohns und 50 % des Bruttodurchschnittslohns und/oder Referenzwerte, die auf nationaler Ebene verwendet werden, verwenden.
Dänemark hat allerdings mit Unterstützung Schwedens vor dem EuGH gegen die EU-Mindestlohnrichtlinie geklagt und beantragt, diese für nichtig zu erklären, weil sie außerhalb der Kompetenzen des Unions-gesetzgebers liege. Beide Länder befürchten, die Richtlinie könne ihre nationalen Systeme der Lohnfindung, die stark auf Tarifverhandlungen basieren, untergraben (EuGH, Rechtssache C-19/23). Der Generalanwalt am EuGH, Nicholas Emiliou, hat in seinem Schlussantrag vom 14. Januar 2025 empfohlen, die Richtlinie in vollem Umfang aufzuheben, weil ihr Regelungsgegenstand das Arbeitsentgelt sei und es insoweit an der Gesetzgebungskompetenz der EU fehle. In etwa drei Viertel der Fälle folgt der EuGH dem Schlussantrag des Generalsanwalts. Eine Entscheidung des EuGH wird im Laufe des Jahres 2025 erwartet.
6. Anpassungskriterien gemäß der Geschäftsordnung
Im Koalitionsvertrag wird festgehalten, dass die Mindestlohnkommission sich im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung auch an 60 % des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren wird. Ob dieser Mindestwert, der in Deutschland zu einem Mindestlohn von ungefähr 15 Euro führen würde, sich tatsächlich verpflichtend aus der EU-Mindestlohnrichtlinie ergibt, wird in der rechtswissenschaftlichen Diskussion im Hinblick auf den Wortlaut bezweifelt. Hiernach „können“ sich die Mitgliedsstaaten am Bruttomedianlohn orientieren, müssen es aber nicht.
Demgegenüber sieht die neu verabschiedete Geschäftsordnung der Mindestlohnkommission vom 21. Januar 2025 ausdrücklich vor, dass die Mindestlohnkommission sich zur Festsetzung des Mindestlohns sowohl nachlaufend an der Tarifentwicklung als auch am Referenzwert von 60 % des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten gemäß Artikel 5 Abs. 4 der EU-Mindestlohnrichtlinie orientiert und zur Anpassung des Mindestlohns den Tarifindex des Statistischen Bundesamtes auf Basis der Stundenverdienste in den beiden vorhergehenden Jahren sowie den vom Statistischen Bundesamt aktuell ermittelten Bruttomedianlohn berücksichtigt (§ 2 Abs. 1). Im Mindestlohngesetz ist der Referenzwert von 60 % des Bruttomedianlohns trotz Ablaufs der Frist zur Umsetzung der EU-Mindestlohnrichtlinie am 15. November 2024 nicht verankert. Hinzukommt, dass es im Falle einer Aufhebung der EU-Mindestlohn-Richtlinie auch an einer EU-rechtlichen Rechtsgrundlage für die Berücksichtigung dieses Mindestwertes fehlen würde.
7. Abstimmung in der Mindestlohnkommission
Die Beschlüsse der Mindestlohnkommission werden mit einfacher Mehrheit der anwesenden Mitglieder gefasst. Die Abstimmung erfolgt in drei Phasen: Der Vorsitzende hat zunächst kein Stimmrecht. Kommt eine Stimmenmehrheit in der ersten Abstimmung nicht zustande, unterbreitet der Vorsitzende einen Vermittlungsvorschlag. Über diesen ist zu beraten und sodann abzustimmen. Erst wenn auch diese Abstimmung zu keiner Mehrheit führt, übt der Vorsitzende sein Stimmrecht aus und führt dadurch eine Mehrheit herbei (§ 10 Abs. 2 MiLoG).
Gemäß der neu verabschiedeten Geschäftsordnung soll die Mindestlohnkommission „im Regelfall“ einen einstimmigen Beschluss herbeiführen. Denn die umstrittene Mehrheitsentscheidung vom 26. Juni 2023 zur letzten Erhöhung des Mindestlohns von den gesetzlich festgelegten 12 Euro ab 1. Oktober 2022 auf 12,41 Euro ab 1. Januar 2024 und 12,82 Euro ab 1. Januar 2025, die gegen die Stimmen der Arbeitnehmerseite beschlossen wurde, soll sich nicht wiederholen. Die neue Geschäftsordnung sieht hierzu einen geordneten Abstimmungsprozess mit drei Beratungssitzungen und gegebenenfalls mehreren Abstimmungsrunden in der dritten Beratungssitzung vor, um zu einem Konsens zu gelangen (§ 2 Abs. 2).
8. Rechtliche Wirkung des Anpassungsbeschlusses
Der Beschluss der Mindestlohnkommission ist ein reiner Binnenakt ohne Außenwirkung. Die Bundesregierung kann den Beschluss der
Mindestlohnkommission zur Anpassung des Mindestlohns durch Rechtsverordnung verbindlich machen (§ 11 Abs. 1 MiLoG). Es besteht aber keine Umsetzungspflicht der Bundesregierung. Insoweit besteht politische Entscheidungsfreiheit. Entschließt sich die Bundesregierung zur Umsetzung, kann sie den Beschluss der Mindestlohnkommission nur inhaltlich unverändert in die Rechtsverordnung übernehmen. Ein Abänderungsrecht der Bundesregierung besteht nicht. Nur die von der Bundesregierung erlassene Rechtsverordnung ist (im Verwaltungsrechtsweg) gerichtlich angreifbar. Nur in diesem Rahmen können auch in der Sphäre der Mindestlohnkommission liegende Fehler, etwa Verfahrensfehler, überprüft werden.
9. Der Anpassungsbeschluss vom 27. Juni 2025
Nach dem veröffentlichten Anpassungsbeschluss vom 27. Juni 2025 beruht die Entscheidung der Mindestlohnkommission, den gesetzlichen Mindestlohn zum 1. Januar 2026 auf 13,90 Euro und zum 1. Januar 2027 auf 14,60 Euro zu erhöhen, auf einem Vermittlungsvorschlag der Vorsitzenden, den die Mindestlohnkommission einstimmig beschlossen hat. Hierbei habe sich die Mindestlohnkommission an den im Mindestlohngesetz und der Geschäftsordnung der Mindestlohnkommission genannten Kriterien orientiert.
Zur Begründung führt die Mindestlohnkommission aus, die Beschlussfassung falle in eine Zeit anhaltender wirtschaftlicher Stagnation. Die deutsche Wirtschaft sehe sich in weiten Teilen mit konjunkturellen und strukturellen Herausforderungen sowie externen Schocks konfrontiert. Die Entwicklung der Verbraucherpreise habe sich nach einem starken Anstieg in den Jahren 2021 bis 2023 normalisiert. Für das Jahr 2026 ließen die angekündigten Maßnahmen der Bundesregierung eine Aufhellung der wirtschaftlichen Lage erhoffen. Vor dem Hintergrund der vorliegenden Prognosen zur wirtschaftlichen Entwicklung sowie der Erkenntnisse zur Beschäftigungs- und Wettbewerbssituation halte die Mindestlohnkommission den Vermittlungsvorschlag der Vorsitzenden für vertretbar, um den Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wirksam zu verbessern.
Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales Bärbel Bas kündigte bereits am Tag der Veröffentlichung des Anpassungsbeschlusses an, diesen übernehmen zu wollen. Der zu erwartende Verordnungsentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales bedarf eines Kabinettsbeschlusses der Bundesregierung. Die Zustimmung des Bundesrates ist nicht erforderlich.
10. Fazit und Ausblick
Die Einigung in der Mindestlohnkommission kam erst 50 Minuten vor Beginn der Pressekonferenz am 27. Juni 2025 und damit buchstäblich in letzter Sekunde zustande. Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und als einer der drei Vertreter der Arbeitgeberseite Mitglied der Mindestlohnkommission, kritisierte einen „enormen politischen und medialen Druck“ auf das Gremium und warnte: „Wenn die Politik nicht langsam begreift, dass die Unabhängigkeit der Kommission ein Wert an sich ist, dann wird es schwierig, dass wir diese Arbeit erfolgreich fortsetzen.“ Der von CDU, CSU und SPD beschrittene Weg, sich im Koalitionsvertrag einerseits zu einer „starken unabhängigen Mindestlohnkommission“ zu bekennen, andererseits aber ausdrücklich unter Hinweis auf eine Orientierung an 60 % des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten einen Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 für „erreichbar“ zu erklären, ist mindestens fragwürdig. Konsequent wäre allein, auf jegliche Vorgaben oder Vorstellungen zur konkreten Höhe des Mindestlohns zu verzichten, um die Handlungsfähigkeit der Mindestlohnkommission nicht zu gefährden. Denn ein Scheitern hätte wohl das Ende dieses Gremiums bedeutet. Abzuwarten bleibt, ob die Mindestlohnkommission nach einer eventuellen Aufhebung der EU-Mindestlohnrichtlinie an der Orientierung an 60 % des Bruttomedianlohns in ihrer Geschäfts-ordnung festhält.
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Autor dieses Beitrags:
Ralph Siebert
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht
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