Erschütterung des Beweiswerts „passgenauer“ Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bei Kündigung des Arbeitsverhältnisses
Juli 2024
Der „Gelbe Schein“ ist der gesetzlich ausdrücklich vorgesehene Nachweis für das Vorliegen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Hieran hat sich durch die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nichts geändert. Nun müssen Arbeitnehmer, die Versicherte einer gesetzlichen Krankenkasse sind, seit dem 1. Januar 2023 die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht mehr ihrem Arbeitgeber vorlegen (§ 5 Abs. 1a S. 1 EFZG). Bereits seit dem 1. Januar 2021 erhalten Krankenkassen von den an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzten und Einrichtungen die „festgestellten Arbeitsunfähigkeitsdaten“ elektronisch übermittelt (elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, § 295 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB V). Die Krankenkassen müssen seit dem 1. Januar 2023 aus den elektronisch übermittelten Arbeitsunfähigkeitsdaten eine Meldung zum Abruf für den Arbeitgeber erstellen (§ 109 Abs. 1 S. 1 SGB IV). Die elektronische Meldung zum Abruf durch den Arbeitgeber ersetzt aber nicht die vom Vertragsarzt schriftlich auszustellende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Arbeitgeber (§ 109 Abs. 1 S. 5 SGB IV). Arbeitnehmer, die Versicherte einer gesetzlichen Krankenkasse sind, sind seit dem 1. Januar 2023 verpflichtet, zu den für die Vorlagepflicht geltenden Zeitpunkten das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer feststellen und sich eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aushändigen zu lassen (§ 5 Abs. 1a S. 2 EFZG).
1. Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Nach den allgemeinen Grundsätzen zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast muss der Arbeitnehmer, der gegenüber dem Arbeitgeber einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall geltend macht, die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit nachweisen. Hierbei kommt einer ordnungsgemäß ausgefüllten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz ein hoher Beweiswert zu. Das Gericht könne normalerweise den Beweis, dass eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vorliege, als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine solche Bescheinigung vorlege (BAG vom 8. September 2021 – 5 AZR 149/21). Der Arbeitnehmer kann sich daher zur Beweisführung zunächst auf die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung beschränken.
2. Erschütterung des Beweiswerts durch den Arbeitgeber
Der Arbeitgeber, der eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht gegen sich gelten lassen will, muss im Rechtsstreit tatsächliche Umstände darlegen und im Streitfall beweisen, die zu ernsthaften Zweifeln an der behaupteten krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlass geben. Der Arbeitgeber muss den „hohen Beweiswert“ der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern. Einfaches Bestreiten reicht hierfür nicht aus (BAG vom 8. September 2021 – 5 AZR 149/21). Derartige Umstände können sich aus einer nicht ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ergeben, etwa bei einer Ausstellung ohne vorausgegangene Untersuchung oder einer rückwirkenden Bescheinigung. Umstände, die den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern, können sich insbesondere auch aus der Sphäre des Arbeitnehmers ergeben, beispielsweise bei einer vom Arbeitnehmer angekündigten Arbeitsunfähigkeit nach einer Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber, einer auffällig häufigen Erkrankung am Urlaubsende, wodurch sich der Aufenthalt des Arbeitnehmers am Urlaubsort verlängert, oder der Ausübung einer Tätigkeit oder sportlichen Aktivität, die mit der attestierten Erkrankung nicht in Einklang zu bringen ist.
3. Folge der Erschütterung des Beweiswerts
Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, so tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bestand. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen (BAG vom 8. September 2021 – 5 AZR 149/21). Der Arbeitnehmer kann insbesondere Beweis durch Vernehmung des behandelnden Arztes antreten.
4. Eigenkündigung und „passgenaue“ Erkrankung
Kündigt ein Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis und wird er am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben, kann dies nach einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 8. September 2021 (5 AZR 149/21) den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insbesondere dann erschüttern, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst.
Die Klägerin war bei der Beklagten seit Ende August 2018 als kaufmännische Angestellte beschäftigt. Am 8. Februar 2019 kündigte die Klägerin das Arbeitsverhältnis zum 22. Februar 2019 und legte der Beklagten eine auf den 8. Februar 2019 datierte, als Erstbescheinigung gekennzeichnete Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor. Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei erschüttert, weil diese genau die Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses nach der Eigenkündigung der Klägerin abdecke. Die Klägerin hat demgegenüber geltend gemacht, sie sei ordnungsgemäß krankgeschrieben gewesen und habe vor einem Burn-Out gestanden.
Das Arbeitsgericht Braunschweig sowie das Landesarbeitsgericht Niedersachsen haben der auf Entgeltfortzahlung für die Zeit vom 8. Februar bis zum 22. Februar 2019 gerichteten Zahlungsklage stattgegeben. Auf die Revision der Beklagten hat das Bundesarbeitsgericht die Zahlungsklage abgewiesen.
Die Koinzidenz zwischen der Kündigung vom 8. Februar zum 22. Februar 2019 und der am 8. Februar bis zum 22. Februar 2019 bescheinigten Arbeitsunfähigkeit begründe einen ernsthaften Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit. Ernsthafte Zweifel am Vorliegen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit könnten sich insbesondere daraus ergeben, dass eine am Tag der Eigenkündigung des Arbeitnehmers ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung passgenau die nach der Kündigung noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdecke. Aufgrund der zeitlichen Koinzidenz zwischen bescheinigter Arbeitsunfähigkeit sowie Beginn und Ende der Kündigungsfrist werde der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert. Die Klägerin sei im Prozess ihrer Darlegungslast zum Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit nicht hinreichend konkret nachgekommen.
5. Arbeitgeberkündigung und „passgenaue“ Erkrankung
Der Beweiswert von (Folge-)Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen kann nach einer aktuellen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13. Dezember 2023 (5 AZR 137/23) auch erschüttert sein, wenn der arbeitsunfähige Arbeitnehmer nach Zugang der Kündigung des Arbeitgebers eine oder mehrere Folgebescheinigungen vorlegt, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfassen, und er unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt.
Der Kläger war seit März 2021 als Helfer bei der Beklagten beschäftigt. Er legte am Montag, dem 2. Mai 2022, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit vom 2. bis zum 6. Mai 2022 vor. Mit Schreiben vom 2. Mai 2022, das dem Kläger am 3. Mai 2022 zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31. Mai 2022. Mit Folgebescheinigungen vom 6. Mai 2022 und vom 20. Mai 2022 wurde Arbeitsunfähigkeit bis zum 20. Mai 2022 und bis zum 31. Mai 2022 bescheinigt. Ab dem 1. Juni 2022 war der Kläger wieder arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung auf. Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung mit der Begründung, der Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei erschüttert. Dem widersprach der Kläger, weil die Arbeitsunfähigkeit bereits vor dem Zugang der Kündigung bestanden habe.
Das Arbeitsgericht Hildesheim sowie das Landesarbeitsgericht Niedersachsen haben der auf Entgeltfortzahlung gerichteten Klage für die Zeit vom 1. bis zum 31. Mai 2022 stattgegeben. Die Revision der Beklagten hatte vor dem Bundesarbeitsgericht teilweise – bezogen auf den Zeitraum vom 7. bis zum 31. Mai 2022 – Erfolg.
Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen sei bei der Prüfung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die während einer laufenden Kündigungsfrist ausgestellt werden, zutreffend davon ausgegangen, dass für die Erschütterung des Beweiswerts dieser Bescheinigungen nicht entscheidend sei, ob es sich um eine Kündigung des Arbeitnehmers oder eine Kündigung des Arbeitgebers handelt und ob für den Beweis der Arbeitsunfähigkeit eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt werden. Stets erforderlich sei allerdings eine einzelfallbezogene Würdigung der Gesamtumstände.
Hiernach habe das Landesarbeitsgericht Niedersachsen richtig erkannt, dass für die Bescheinigung vom 2. Mai 2022 der Beweiswert nicht erschüttert sei. Eine zeitliche Koinzidenz zwischen dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit und dem Zugang der Kündigung sei nicht gegeben. Nach den getroffenen Feststellungen habe der Kläger zum Zeitpunkt der Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine Kenntnis von der beabsichtigten Beendigung des Arbeitsverhältnisses, etwa durch eine Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 2 Satz 4 BetrVG, gehabt. Weitere Umstände habe die Beklagte nicht dargelegt.
Bezüglich der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 6. Mai 2022 und vom 20. Mai 2022 sei der Beweiswert dagegen erschüttert. Das Landesarbeitsgericht habe insoweit nicht ausreichend berücksichtigt, dass zwischen der in den Folgebescheinigungen festgestellten passgenauen Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist eine zeitliche Koinzidenz bestanden und der Kläger unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufgenommen habe. Dies habe zur Folge, dass nunmehr der Kläger für die Zeit vom 7. bis zum 31. Mai 2022 die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 3 Abs. 1 EFZG trage. Da das Landesarbeitsgericht – aus seiner Sicht konsequent – hierzu keine Feststellungen getroffen habe, sei die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen gewesen.
6. Beweiswerterschütterung durch zeitliche Koinzidenz zwischen Kündigung und Erkrankung
Die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts vom 8. September 2021 und 13. Dezember 2023 zeigen, dass das Bundesarbeitsgericht zumindest beim Vorliegen „verdächtiger Umstände“ den „hohen Beweiswert“ des „Gelben Scheins“ nicht mehr ohne weiteres anerkennt.
Erfolgt die Krankschreibung des Arbeitnehmers im zeitlichen Zusammenhang mit einer Kündigung und deckt die attestierte Arbeitsunfähigkeit exakt den Zeitraum bis zum Ablauf der Kündigungsfrist ab, wird regelmäßig der Beweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert. Nicht maßgeblich ist, ob es sich um eine Eigenkündigung des Arbeitnehmers oder eine durch den Arbeitgeber ausgesprochene Kündigung handelt.
Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Ausspruch der Kündigung und die erstmalige ärztliche Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit zeitlich zusammenfallen. Aber auch dann, wenn die Krankschreibung vor Ausspruch einer arbeitgeberseitigen Kündigung beginnt, führt die Deckungsgleichheit zwischen der attestierten Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit und dem Ablauf der Kündigungsfrist zu einer Erschütterung des Beweiswerts ärztlicher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die nach Ausspruch der Kündigung ausgestellt worden sind, wenn der Arbeitnehmer am unmittelbar auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses folgenden Tag wieder arbeitsfähig ist und bei einem anderen Arbeitgeber zu arbeiten beginnt.
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Autor dieses Beitrags:
Rechtsanwalt in Anstellung
Fachanwalt für Arbeitsrecht
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